Alps / Norway

Alps |  Peter V. Brinkemper

Jürgen Naber fotografiert Landschaft in Norwegen. Nicht als schnell einsehbares Panorama eines heutigen Lebens- und Erlebnisraums mit geographischem Wiedererkennungswert. Sondern kultur- und naturgeschichtlich verstellt und verfremdet, unzugänglich und verschlossen, wie in einem analytischen und historischen Labor. In streng getrennten motivischen Serien mit unterschiedlichen metaphorischen Bedeutungen, die der vorschnellen Entzifferung widerstehen. Verweigert wird die naheliegende Ästhetik eines kontinuierlichen, typisch anmutenden Lebenskreises, in dem alle Elemente in Jetztzeit auf einer mehr oder weniger homogenen Freibühne an der atlantischen Fjord- und Inselküste Westnorwegens versöhnlich zusammenkommen. In seinen künstlerischen Serien entscheidet sich Jürgen Naber für eine andere Strategie: Er denaturiert und zerlegt mögliche zeitgenössische Bild- und Gegenstandsräume in bestimmte motivische Parameter, die er in einzelnen Folgen ausführlich und intensiv studiert. So werden in „Norwegian Mountains“ großformatige Objekte in puristischen Ausschnitten präsentiert: Berge, Höhenzüge, Felsen, Hänge, Gestein, Gneis, Schnee und Eis, Bewaldung und Täler. Sie erscheinen im Gesamtblick und im Detail sorgsam aus weiteren Kontexten herausgelöst, als fragmentarische motivische Einheiten gefasst, mit eigentümlicher und eigenwilliger Dynamik, Kompositionen, in denen die Bewegungen und Dimensionen einer äonenlangen Naturgeschichte einfrieren, verdichtet zu visuellen, fast ortlosen Reservaten – zwischen postsakraler Utopie mit mythologischen Anklängen und zivilisationskritischer Dystopie, welche die Indienstnahme als Erholungsraum, Rohstofflieferant und Postkarte abweist. Die bewusst partiell gehaltenen Ansichten werden von den mannigfaltigen Formationen und der eigensinnigen asketischen Optik einer archaischen Berg-Schrift durchzogen. Hieraus ergibt sich die Paradoxie, dass auf landschaftsbestimmende, ja dominierende Akzente einer eindeutigen norwegischen Geographie verzichtet und die naturalistische Ontologie des üblichen Lebens- und Erlebniskontextes verlassen wird, während die verbleibenden Aspekte zu Rätseln in einem schroffen Labyrinth zwischen Himmel und Erde umfunktioniert werden. Der Berg wird wieder zum dem, was er einmal war, zu einem Phantasma jenseits der Messbarkeit von Raum und Zeit, das sich radikal der konkreten Dimensionierung, Erschließung und Nutzung entzieht. Dieses Konzept ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, gerade weil es sich bei den „Norwegian Mountains“ um überdimensionale, Raum bildende und ihn einnehmende, Ferne wie Nähe artikulierende, Distanz schaffende wie überwindende Großobjekte handelt. Wenn man so will, stehen die Berge sich selbst und anderen im Weg, weil sie keine Wege zu kennen scheinen und das Unwegige schlechthin verkörpern. Jürgen Nabers Fotografie schwächt dieses Faktum der Unhintergehbarkeit und der prekären Darstellbarkeit des Montanen nicht ab, sondern potenziert es. Vielschichtig spielt er in seinen Bildern mit der kulturgeschichtlichen Metaphorik des Berges zwischen mythischer Be- und Entgrenzung, tief liegender Fundierung und hoch fliegender, religiöser Erhebung, übermächtiger Erhabenheit und malerischer Attraktion, materieller Massivität, Ewigkeitsanmutung und abrupter klimatischer oder geologischer Verwandlung. Sichtbarkeit und Mysterium, Erhebung und Absturz, Magie und Entrückung, Bedrohung und Einfriedung. Diese und andere Polaritäten liegen immer nah beieinander, halten eine delikate Balance. Darin liegt die gleichermaßen natürliche sowie kulturhistorisch fundierte und fotografisch pointierte Widersprüchlichkeit der makroskopischen Aufnahmen. Nirgends erscheinen die Bergmotive in einem eindeutigen Sinne konsumierbar, sie ziehen sich auf sich selbst zurück, sie verweisen auf ihr eigenes transzendentes Geheimnis und verraten in ihrer Angespanntheit nichts, nicht einmal ihre genaue empirische Lage. Jürgen Naber wendet in allen Serien seines Norwegen-Projektes ähnliche Strategien an, um entweder komplette Landschaften, oder bestimmte topografische Segmente sowie in den Kontext eingefügte oder scharf davon isolierte Objekte in neue bildnerische Konstellationen abseits bekannter Erfassungsklischees zu überführen. Auf diese Weise gewinnt er ein Beschreibungsvokabular, das sich durch Präzision und Entzug auszeichnet und die Metaphorik, über jedes Bild hinaus, begünstigt. Dies gilt auch für die Arbeit an der Schwarz-Weiß-Serie „Norwegian Mountains“. Jürgen Naber betont durchgängig die Ausschnitthaftigkeit des Sichtbaren und die Perspektivität von Sichtbarkeit, immer und vor allem auch als Komplement des Verborgenen und der Verbergung. Der Berg birgt und verbirgt, der Berg ist das Bergen und das Verbergen, Man muss ihm sein Geheimnis schon abringen, es ent-bergen, denn der Berg steht massiv in der Lichtung des Seins und erst recht quer zur Seinsvergessenheit der technifizierten Moderne. Bei aller empirischen Stofflichkeit sublimieren sich die Bergikonen zum absoluten, weltentrückten Anblick, einer kosmisch hochfliegenden, schwebenden Auf- und Übersicht, in der Nähe und Ferne, Vorder- und Hintergrund, Detail und Ganzes in einem Bedeutungsgewebe zusammenfinden, ohne im alltäglichen Sinne miteinander verbunden zu sein. Nabers Bergstudien fangen über die materielle Motivik hinaus „transzendentale“ Aspekte einer Semantik des Montanen ein. Bis auf wenige Ausnahmen (auch einiger einsiedlerisch gehaltener Anzeichen talwärts) wird die direkte Anbindung an den terrestrischen oder atlantischen Kontext ausgeklammert. Auf diese Weise ergeben sich keine pittoresken Fjord-Küsten-Insel-Illustrationen oder randzivilisatorische Schnappschüsse, welche die intendierte Erfahrung des Unendlichen verdecken würden. Vorherrschend sind abstrakte Formationen, in denen kahler Fels, abgerundetes, schrundiges oder mehrschichtiges Gestein, stürzende Linien und sanftere Höhenzüge in Verbindung mit Schneebelag, Wolken, meeresbedingten Nebelschwaden und den tiefer gelegenen Sektoren der auslaufenden Vegetation wechselnde Muster und Strukturen bieten. Im Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie werden die Effekte der verschiedenartigen Zustände von Klima, Licht und Gegenlicht weiter gesteigert. Die Tönung wechselt zwischen Massivität signalisierenden Grauschattierungen und immateriellen, alles in sich verschluckendem Zonen von Weiß. Gebirgszüge und Berggipfel sind mit Schnee bedeckt und in Nebel eingehüllt. Präsenz schlägt um in Verschwinden. Die Verbergung der Berge wird ihrerseits verborgen. Dies lässt der Phantasie einen weiten Spielraum, versteckte oder verschleierte Riesen treten nicht in ihrer Gesamterscheinung, sondern immer nur abschnittweise hervor, begleitet durch weitere Gestalten, langsam und majestätisch. Sie kommen dem Betrachter als „Sperrriegel“ entgegen, als Tarnkappen zwischen Land und Meer, Boden und Horizont, verschmolzen mit der Umgebung, bis sie endlich, bei eingehender Betrachtung in Relief und Profil abstechen. Das derart fotografierte Thema des Bergigen und des Gebirges irritiert in Größe und Dimension, aber auch in seiner diffusen Objekthaftigkeit, die List der Natur lässt den wahren Umfang und die Bedeutung der Erhebungen und der Entfernungen nicht hinlänglich erkennen. In den Bildern entfaltet sich das heimliche Spiel der Intensität der Erscheinungen und der absoluten und relativen Quantität der Formen. Die Bergketten zerbrechen die gezähmte Kontinuität des Landschaftlichen. Sie deterritorialisieren den Boden und halten seine Bewohnbarkeit auf. Die Gipfel werden zu einer imaginären Architektur transformiert, heimgesucht von den Kräften der Elevation, Verwerfung und Erosion, hochgewölbte, abgeschliffene oder abbröckelnde Signifikanten, scheinbare Ruinen und Steinbrüche, die den Blick gleichzeitig auf sich lenken und den Geist über sich hinaus leiten. Mancher Berg stößt mit seiner Erhebung in den bewölkten Himmel vor, berührt den sanft über ihn streichenden Vorhang aus Nebel und Niederschlag, ohne ihn gänzlich aufzureißen, schlägt dabei eine Brücke in ein gefühltes, bodenloses Jenseits oder verschwindet im abgedämpften Licht. In den frühen mythischen Erzählungen ist der Berg ein absolutes und ursprüngliches Objekt. Vor ihm (im zeitlichen und logischen Sinne) gibt es keine Dimensionen. So existiert der Berg nicht einfach im bereits vorhandenem Raum und Licht, er ist ein kosmischer Marker und ermöglicht allererst die Trennung der noch chaotisch-nächtlich ineinander verschlungenen Himmel und Erde und damit die Entstehung eines klar definierten Raumes und einer aufstrahlenden und die Dinge voneinander trennenden Helligkeit. Gebirge sind universelle Metaphern, hochragende Steinhänge, Welthöhlen und Zwischenreiche, mythisch-kosmogonische Geburtshelfer (wie Jötunheim, Wohnstatt der Riesen, zwischen dem himmlisch-göttlichen Asgard und dem irdischen Midgard), die den Raum für das Leben zwischen Himmel und Erde miterschaffen und ausfalten. In dieser Hinsicht sind die rituellen und spirituellen Funktionen von Bergen, Opferstätten, Altären, Treppen, Tempeln, Palästen und Göttersitzen überall auf der Erde symbolisch äquivalent. Das Montane ist der unabsehbare Umschlagplatz zwischen Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, die kulturelle Matrix der Ambivalenz von Weltentstehung und Weltordnung durch alle Menschenzeitalter: Ausdruck des Unheimlich-Riskanten, des Bedrohlich-Anziehenden, des Übermächtig-Majestätischen, des Mysteriös-Anderen und des letztlich Unfassbaren.